Theater 2018: “Die zwölf Geschworenen”

„Wir dürfen zweifeln. Unsere Freiheit beruht darauf.“ (Nr. 8)

Zwölf Menschen in einem kahlen Besprechungsraum, angedeutet nur durch einen Kubus aus Holzlatten, die Zuschauer im Maulbronner Oratorium engen die Szenerie von beiden Seiten ein. Im kalten Licht einer Neonröhre arbeiten sich die titelgebenden, mit Nummern statt Namen versehenen zwölf Geschworenen Detail um Detail voran, angetrieben zunächst nur durch die beharrlichen Fragen von Nr. 8 (Aaron Gölz), der sich den Gewissheiten der anderen entgegenstellt.

Roses Fernsehspiel „Twelve angry men“ von 1954 (von H. Budjuhn 1958 für deutsche Bühnen dramatisiert) wirkt auf den ersten Blick anachronistisch – zwölf weiße Männer verhandeln einen Mordfall, ein puerto-ricanischer Jugendlicher soll seinen Vater erstochen haben. Es gibt zwar Indizien und Zeugenaussagen, aber kein Geständnis. Die Geschworenen repräsentieren das weiße Amerika der 50er Jahre, die Charaktere sind eher holzschnittartig angelegt mit klar benannten Funktionen im Stück – der „Opportunist“ (Samuel Ceruso), der „zaghafte“ (Silas Schäfer), der „korrekte, jedoch beschränkte“ (David Schwarz), der „scheue, belastete“ (Matthis Gölz) Mann.

Doch wenn die zwölf Schauspielerinnen und Schauspieler – geführt von Richter (Jean-Louis Fichtner) und Gerichtsdiener (Elia Sandor) – den Kubus betreten, sich um den langen Tisch setzen und ihr Spiel beginnen, ist von dieser Schablonenhaftigkeit nichts zu spüren. Nr. 7 (laut und proletenhaft: Lisa Rueß) will zu einem Baseballspiel und nimmt eine Verurteilung zu Unrecht in Kauf, Nr. 4 (eloquent: Nelly Keller) und Nr. 12 (Catriona Sutherland, eisig und zahlenfixiert) sind eher auf ihre Wirkung als auf eine Lösung bedacht, wohingegen Nr. 9 (Davina Döring) mit dem feinen Gespür der Älteren früh auf die Zweifel von Nr. 8 eingeht. Anfänglich zurückhaltend erkämpft sich Nr. 11 (Lilian Steinmetz) immer mehr Raum – ausgerechnet sie als Kriegsmigrantin aus dem Ostblock muss den uramerikanischen Alphatieren (Nr. 3 und Nr. 10: Samuel Schwarz und Michael Posur) den Wert eines fairen Verfahrens in Erinnerung rufen. Am Ende entlarven sich diese beiden selbst: Nr. 10 wird getrieben von seinen Ressentiments gegen Einwanderer, Nr. 3 projiziert die Enttäuschung über sein eigenes, gewalttätiges Scheitern als Vater in den Mordprozess. Die Geschworenen befinden auf „nicht schuldig“ – doch Gewissheit gibt es weiterhin keine.

Regisseur Tobias Utz (Regieassistenz: Miriam Kupfer) fordert mit der Wahl dieses Stückes seine Darstellerinnen und Darsteller heraus – die Textmenge ist groß, die teils kleinschrittigen Dialoge (konzentriert soufflierend: Hanna Bubeck) fordern durchgehende Präsenz. Hinzu kommt der freistehende, von allen Seiten einsehbare Raumkubus, der sämtliche Protagonisten permanent den Blicken der Zuschauer aussetzt; es gibt keine Rückzugsmöglichkeit, keinen Abgang, keinen unbeobachteten Moment. So verstärkt das Bühnenbild die Idee einer Versuchsanordnung, die dem Stück ohnehin innewohnt. Umso beeindruckender ist die Leistung des Ensembles, das auf engstem Raum als Ganzes agiert, sich immer wieder neu anordnet und den mühevollen, teilweise quälenden Weg des Diskurses beschreitet.

Womöglich besteht hierin auch die eigentliche Stärke von Tobias Utz‘ Theaterarbeit in Maulbronn: seine Schauspielerinnen und Schauspieler einerseits mit einem unbequemen Stück, gepaart mit unbedingtem Kunstwillen, zu konfrontieren, andererseits aber auch einen Vertrauensraum zu schaffen, der es den jungen Erwachsenen erlaubt, sich an eigene Grenzen zu spielen und diese in manchem Augenblick zu durchbrechen – exemplarisch zu beobachten in den bis zur völligen Entäußerung gehenden Ausbrüchen von Nr. 3 und Nr. 10.

Es bleiben zwei eindrückliche Theaterabende im Maulbronner Oratorium, die die Zuschauer nachdenklich zurücklassen – die vermeintlichen Anachronismen entpuppen sich als erschreckend aktuell. Warum lassen wir (wieder) wütende weiße Männer voller Wut und Ressentiments unsere Demokratien unter Druck setzen? Aber auch: Sind wir wirklich bereit, das „Zweifelndürfen“ als Freiheit zu verstehen, halten wir den mühevollen Diskurs und die fehlenden Gewissheiten aus?

Harald Philipps (Abteilungsleiter, Physik, Deutsch)